Westanstieg

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Routen Details:
Vergessene Tauernthäler.
(Hollersbach, Habach, Untersulzbach.)
Von Prof. Dr. Guido Eng. Lämmer in Stockerau.
(Schluss.)

Die Gamsmutter (3087 m.) stand schon seit langen Jahren auf meinem alpinen Wunschzettel, doch zeigte sie sich sowohl von der Prager- als auch von der Kürsingerhütte aus unbequem entlegen; und werden schwarzen Felsklumpen von der zukünftigen Habachhütte aus wird beikommen wollen, der wird ausser mühevollen Umgehungsmanövern noch eine sehr schwere Kletterei an der gewaltigen Ostwand überstehen müssen. Darum blieb es für mich das Beste, mein Glück von der Aschamalm zu versuchen, trotz der üblen Erfahrungen, die ich im Auf- und im Abstiege mit den Moränen des Untersulzbaches gemacht hatte. Von Neukirchen führte mich am 25. Juli ein ganz idealer Weg in dieses Thal: Zuerst gieng es etwas verwickelt über Wiesen bis zum nächsten Steg; aber jenseits der Salzach leitet der hübsche, schattige Waldpfad, langsam ansteigend, um den Fuss des Poberges herum, entzückende Ausblicke auf das grüne Salzachgefild huschen vorüber, nur der schöne Wasserfall bleibt unsichtbar zur Rechten in der Tiefe. Das Thal zeigt anfangs den gewöhnlichen sanfteren Typus wie alle nördlichen Tauernachen in der unteren Hälfte, nur ist es enger; erst zwischen den beiden innersten Almen erscheint ein ernstes Memento, wie furchtbar nah' die zerstörenden Elemente hier drohen: Vor langen Jahren hat sich die ganze rechte Thalwand in grausigem Sturze über das Thal weithin ergossen. In diesem Trümmerlabyrinth sah; ich einen Alten herumirren und half ihm auf den rechten Pfad; es war ein Hüttenbettler, der für heute dieses Thal bis zur letzten Alm hinauf abgraste. Ein hübscher Beruf: durch Spazierengehen seinen Lebensunterhalt zu gewinnen, freilich vorausgesetzt, dass man dabei durch massige Lebensweise ein Deficit vermeidet. Der Jäger, mein muthmaasslicher Quartierherr für diese Nacht, war noch abwesend, darum lud ich mich vorläufig bei den Aelplern der Aschamalm zu Gaste auf Mus und Milch. Heute stand St. Jakob im Kalender, drüben in Krimml ranggelten sie jetzt um die Meisterschaft im Pinzgau; aber es könnte doch manch' ein Feinschmecker unter den Bauern statt des Raufsportes lieber dem verstohlenen Waidwerk huldigen — so dachte-mein Jäger, und..daher durchstreifte er die Gemsenkare des Sonntags- und Breitfusskopfes in ermüdendem Aufsichtsgange bis zur Dunkelheit. Ich aber verbrachte einen beschaulich schönen Nachmittag in grossartiger Hochlandschaft: Bald verengt sich hier das Thal zur düsteren Spalte, und ein wildes Meer von Blöcken erfüllt es. Zum Greifen nah', wiewohl in der That noch fern, wölbt sich die Eiszunge, und scheinbar gleich darüber leuchtet in thronender Höhe der plump geformte Kleinvenediger. Keinen Thalschluss der Tauern liebe ich so wie diesen: Unleugbar hat ja das grossartige Krimmlerkees seinesgleichen höchstens in dem Suldenferner, aber die trostlose Oede dieser Schlucht hier starrt wie ein feierliches Symbol der Culturverneinung, und die rauheste Wildniss schliesse ich am tiefsten in mein culturfeindliches Herz. Hier ist wohl keine Schutzhütte und kein Sectionsweg zu befürchten; denn ein Blick auf die Karte lehrt, dass neben der Kürsingerhütte ein solcher Bau für den Venediger . ganz zwecklos wäre, die Fürleg aber kann von der Berliner Habachhütte aus besser bestiegen werden. Vor einer Venedigerbesteigung von der Aschamalm aus will ich hier die vielen zwar Berufenen, aber nicht Auserwählten, ganz eindringlich warnen: Man prüfe seine Kräfte genau, ob sie zureichen, auf etwa 8 km. Länge über 2000 m. Höhendifferenz zu überwinden, zuerst 2—3 St. über das wüsteste Blockgewirr der Alpen zu springen und zu klettern und 1 dann noch eine Gletscher Wanderung, zweimal länger als von der Kürsingerhütte, mit einem sehr gefährlichen Keesbruche in der Mitte, auszuhalten. 1884 stand ich mit einem Freunde, nachdem wir in dem erweichten Neuschnee des Keeses bei Gluthhitze entsetzliche Leiden zu erfahren hatten, um 5 U. abends erst auf der Venedigerscharte! Zehn Jahre später hatte ein Tagesmarsch von der Pragerhütte auf die Hohe Fürleg und durch den Untersulzbach hinaus bis Neukirchen meine gewiss ausdauernden Beine aufs Aeusserste ermüdet. Fast nie steigen Touristen in dieses Thal ab, nur ganz selten Pinzgauer Führer, von der Pragerhütte heimkehrend.
Dass ich am 26. Juli 1896 viel leichteres Spiel hatte, verdanke ich nur den abnormalen Schneemassen, die der Frühling von den Höhen geschleudert hatte: Kilometerweit überbrückte harter Lawinenschnee in dicker Wölbung die Ache nebst den alten Moränen. Lange vor 3 U. morgens hatte ich das hübsche Haus der preussischen Jagdgesellschaft verlassen; auch dieses war mehrmals von Lawinen weggeweht worden und ist jetzt ganz zwischen zwei Riesenblöcke hineingebaut. Die Laterne in der Linken, stieg ich vorerst zu den grünen Streifen an dem Bache hinab und steuerte dann thaleinwärts in die Sternennacht. Immer holpriger gieng es zwischen nassen Büschen über mächtige Wälle von Rundsteinen, und ich war sehr froh, endlich auf die breiten Lawinen einsteigen zu können. Freilich in der Mitte senkte sich die Decke schon verdächtig, und verdächtig laut grollten die Wildwasser herauf. Ich hielt mich möglichst an den Rändern, war aber damals völlig sicher, dass dieser Sommer Unfälle durch Einbrechen in solch' überdeckte Bäche mitbringen werde, was ja auch dann leider geschah.
Von der unglaublichen Wucht dieser Märzlawinen konnte man sich heuer oft überzeugen, wie sie ganze Bäume und zimmergrosse Felsen bis zu 100 m. an der jenseitigen Thallehne hinaufgeschleudert hatten. Auf dem linken Ufer stieg ich zuletzt schräg die Höhe hinan und erreichte so im westlichen Bogen die ebene, schmale Keeszunge. Schade, dass Prof. Richter nicht den Rückgang dieses Gletschers verfolgt hat, er ist viel auffälliger als der des Obersulzbachkeeses: Heute endigt die Zunge etwa in der Höhe von 2150 m. In kühler Dämmerung brachte mich ein erquickender Eilmarsch schräg an das rechte Ufer, dorthin, wo ich die hohe Doppelmoräne überschritt, um steil über halb verschneite Steinfelder anzusteigen. Die Käferfeldspitzen drüben bluteten in sattem Purpur, darüber der westliche Himmel — ein kaltes, mystisches Blau, die schwarzen Randberge im Osten von silbernem Licht umsäumt, und über das Schneemeer huschten zarteste Heliotropschatten — wahrhaft ein Böcklin'scher Farbentraum! Wie mit magischer Kette zog es mich dahin empor, wo im Osten die Lebensspenderin verborgen ihre Schimmer herüberspann. „Ich bin der Sonne ausgesetztes Kind, das heim verlangt"; nie hat die uralte Lichtsehnsucht der Menschen ergreifenderen Ausdruck gefunden als mit diesem Worte in Gerhart Hauptmann's „Versunkener Glocke". Von den zahllosen Speikblüthen pflückte ich; bald stand ich am Westfusse der Gamsmutter. Der Grat war nur eine kurze Strecke gangbar, dann bog ich etwas nach links und bekam schwerere Arbeit. Hei, Kletterlust! Wie gefügig sich der harte Fels unter die zwingende Faust schmiegt. Knapp unter dem Gipfel erfreute mich ein prachtvoller Bergkrystall. Die Spitze wird in links drehender Spirale, zuletzt von Osten her bezwungen, und zwar bedarf es eines wirklichen Klimmzuges, um das kleine Plätzchen zu erreichen. Bisher im Schatten, tauchte ich nun in einen Ocean von Licht. Kein Wölkchen am Himmel zu sehen, es war einer der drei schönen Tage des vorigen Sommers, die Fernsicht von unheilkündender Schärfe. Selbstverständlich beschränkt sich der Ausblick vor Allem auf die Bergkränze des Habachs und Untersulzbaches und die beiden Venediger; aber dieses Bild, besonders der imposante Steilabsturz der Gamsmutter, machte auf mich tiefen Eindruck. Nach Norden hin ist übrigens die Grauwacken- und die Kalkzone schön aufgerollt. *
Ich baute ein Steinmännchen, aber wieder möchte ich bezweifeln, dass ich der erste Besteiger bin; denn da die Gemstreiber über die Kammlinie bis zu den Leiterköpfen gelangen, so mochte auch die Gamsmutter gelegentlich einmal betreten worden sein. — Von 6 U. 17 Min. bis gegen 7 U. blieb ich, dann aber versuchte ich einen Abstieg schräg über die plattige Nordwestwand, der mich nach einigem Stufenhauen in die Felsrinne führte, die das Massiv nordwestlich abgrenzt. Bald stand ich in meinen Anstiegsspuren. Von hier nun zog ich mir quer über die firnbedeckten Steilhänge im Geiste eine Gerade bis dahin, wo der Fuss der Fürleg auf dem flachen Gletscherbecken aufsitzt. (In Wirklichkeit ist dies viel schärfer abgegrenzt als auf den Karten.) Hussa, wie die Uhustollen meiner Schuhe eingreifen! Was bedarf es da noch der Steigeisen! Am unteren Rande des furchtbaren Gletscherbruches durchquere ich dann das Kees und winde mich zwischen allerlei gefährlich aufklaffenden und noch gefährlicher verdeckten Spalten hindurch aufwärts und im Halbkreis um das Schwarze Hähnl herum. Hier oben entdeckte ich einen merkwürdigen Trichter, den die gegen den Fels prallenden Weststürme tief aus dem Schnee ausgehobelt haben; eine ähnliche Erscheinung kenne ich nur noch am nordöstlichen Dirndl beim Dachstein. — Vom Zwischenthörl weg erreiche ich
schlendernd auf altbekannten Wegen schon um 9U. 58 die Kürsingerhütte, froh des gelungenen Tages.
Quelle: Mitteilungen des DÖAV 1897, Seite 37
Datum erste Besteigung:
26.07.1896
Gipfel:
Gamsmutter (Venedigergruppe)
Erste(r) Besteiger(in):
Lammer Guido Eugen Dr.