Südwestwand -Führe Strauß - Lorenz

(Bearbeiten)
Routen Details:
Am nächsten Morgen brachen wir um 6 U. 45 M. (4%° K.) von der Fasulalpe auf, übersetzten den Bach 7 U. 50 M. dort, wo er vor der Schäferhütte ein Gries durchzieht, und steuerten direct östlich den Halden zu, uns stets am rechten Ufer des kleinen Wasserlaufes haltend, der bei der Schäferhütte herabzieht. Diesen überschritten wir hoch oben und erreichten 8 U. 50 M. den kleinen See, welcher die Schmelzwässer der südwestl. der Küchelspitze gelegenen Gletscher aufnimmt. Denselben rechts lassend erreichten wir, stets scharf östlich ansteigend, 9 U 10 M. über die rechte Seitenmoräne den Gletscher, der ausgezeichnet gangbar war, und stiegen nun stets in der Eichtung einer dicht am Absturz der Küchelspitze den Grat durchsetzenden Scharte an, welche durch eine schlanke, menschenähnliche Felsnadel gut gekennzeichnet ist. Zu dieser Scharte hinauf zieht ein theilweise mit Schnee erfüllter Kamin, welcher den besten Zugang zum Grat versprach. Die direct von der Spitze herabziehenden Felspartien zeigten überall stark geneigte Plattenbildung mit bösen Abstürzen, denen wir uns lieber nicht anvertrauen mochten, umsomehr, als wir dort, wo der Firn an den Felsen auflag, stellenweise einen fatalen Bergschrund erblickten. So erkletterten wir also den Grat und schauten um 9 U. 35 in's Madnleinthal hinab.
Der hier in fast senkrechten Wänden abfallende Grat (die Ostseite der Spitze) zwang uns, direkt in den Felsen aufwärts zu klettern. Bald in engen Kaminen, bald über kleine Wände, die doch immer sicheren Halt boten, dann wieder bald rechts, bald links um vorspringende Blöcke oder Felsrippen herum, näherten wir uns nunmehr der Spitze; etwa 20 m unter deren Gipfel mussten wir stark links und nun sahen wir auch hinter diesem noch weiter zurück den Aufbau der eigentlichen höchsten Spitze, die wir an einem grossen mit Schnee erfüllten Couloir erkannten. Den die beiden Spitzen verbindenden Grat
konnten wir jedoch nicht überblicken. Da wir der Configuration der Felsen nach bedeutend hätten an Höhe verlieren müssen, wenn wir dem Couloir zugesteuert wären, so erkletterten wir die aus rothen Felsthürmen bestehende Südspitze (10 U. 35), bis zu welcher beim ersten Versuche Herr Specht aus Wien mit Frz. Pöll aus Mathon vorgedrungen war. Mein Freund Blezinger aus Heidenheim fand hier noch 1879, als er die Küchelspitze mit Zudrell erstieg, in einer Flasche, dessen Karte mit der Bemerkung: »Bis hierher haben wir uns gewagt.« Nun mussten wir links etwas absteigen und traversirten, stets an Höhe gewinnend, den zur höchsten Spitze hinziehenden Felshang, bis glatt abstürzende Wände Halt geboten. Wieder direct dem Grate nach Osten zustrebend, passirten wir einen Kamin, der oben durch eine hineingestürzte, anscheinend ganz beängstigend lose Platte gesperrt war. Unter und neben dieser Platte zwängte sich Lorenz, von mir mit emporgehobenem, fest in einen kleinen Eitz eingekeiltem Pickel gehalten und geschoben, hindurch und nachdem er festen Fuss gefasst, warf er mir das Seil zu, mit dessen Hilfe ich mich aussen an der Platte vorbei emporarbeiten konnte, nicht ohne oft mit dem Blicke zu
prüfen, ob der Sperrkloben der Mausefalle noch nicht ins Rutschen kommen wolle. Nach Ueberwindung dieses schwierigsten Stückes wurde die Spitze selbst in gut kletterbaren Felsen verhältnissmässig leicht um 10 U. 45 erreicht. Steinmann war keiner auf der Spitze und erst bei gründlicher Nachforschung fand Lorenz in einer Felsspalte eine zerbrochene Flasche und darunter zwei durchweichte Visitkarten. Auf der einen war von geschriebenen Worten gar nichts mehr zu entdecken, nur ein lithographirtes Wort: »Feldkirch« war ganz intakt; das war also des berühmten Bergsteigers JuliusVolland Karte, der dieser ' kühnen Spitze den Ruf der Unnahbarkeit geraubt hatte. Wer denkt beim Namen Voll and nicht an den leider so früh verstorbenen Madiener? Haben doch diese beiden Unzertrennlichen so manche schwierige Hochtouren ersten Banges ausgeführt, so mancher unbezwungenen Spitze den Fuss auf den stolzen Nacken gesetzt. Da war es denn natürlich, dass ich die zweite Karte, auf der nur das Wort »Schruns« und »1879« in Blei lesbar war, während die Adresse nur noch Spuren der Lithographie erkennen liess, für M.'s Karte hielt. Thatsächlich aber war sie das Zeichen der durch Blezinger ausgeführten zweiten Besteigung.
Der eigentliche Gipfel, etwa 4 m lang, 1 1/2 m breit, zieht mit der Längsseite O.-W.; ursprünglich wohl aus einem massiven Felsblock bestehend, ist er jetzt durch die zerstörende Kraft der Athmosphärilien zerspalten, und nur die südliche Ecke besteht aus anstehendem Fels, während der die nördliche Ecke bildende Felsen nach allen Eichtungen hin zerklüftet ist und nur aus zusammenhanglosen Blöcken besteht, welche noch 2 1/2 m unter dem Gipfel Durchblicke nach verschiedenen Eichtungen gestatten. Des unsicheren Fundamentes wegen erbauten wir unsern Steinmann auf der anderen Ecke und bargen die alten Karten mit der meinigen in neuer Flasche. Wie Tags vorher war bei 10°Kälte im Schatten, gänzlicher Windstille und unbeschreiblich klarer Luft der Aufenthalt auf der Spitze ein äusserst genussreicher und die Aussicht ganz ungehindert;
Dr. W. Strauss (Konstanz)

Quelle: Mitteilungen des DÖAV 1885, Seite 19-20

Datum erste Besteigung:
16.09.1884
Gipfel:
Küchelspitze
Erste(r) Besteiger(in):
Lorenz Gottlieb
Strauß Wilhelm