Mierisch Willy
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Biografie:
geboren in Stülpe (Deutschland)
Willy Mierisch
*7. März 1887 — (+) 13. Dezember 1968
Als wir die Schwelle des Schöllhornkares überstiegen, sahen wir oben vor „unserem" Biwakblock jemanden im Abendschatten sitzen. Die Enttäuschung war groß: Nun würden wir das romantische Biwak gar noch mit einer fremden Seilschaft teilen müssen! Unterm Nähersteigen stellten wir erleichtert fest, daß es ein Einzelgänger sein mußte, der uns, besinnlich an der Pfeife schmauchend, vor der Schattenkulisse der Watzmann-Ostwand erwartete. Mit höflicher Geste stellte sich dann der „alte Herr" sogleich uns jungen Gipfelstürmern vor: Willy Mierisch. Später deutete er an, daß er ebenfalls den Salzburger Weg gehen wolle. Unsere fragenden Blicke quittierte er mit feinem Lächeln: Er fühle sich einer solchen Tour durchaus gewachsen. Und das bewies er uns dann auch am nächsten Morgen, als er am Salzburger Pfeiler jede Seilhilfe ablehnte und zügig hinterherstieg.
Das war im Spätsommer 1947, als sich unsere Wege zum ersten Male kreuzten. Und jetzt — 22 Jahre später — soll ich einen Nachruf auf Willy Mierisch schreiben, gleichsam eine Inventur dieses Bergsteigerlebens versuchen, welches bereits seinen Höhepunkt überschritten hatte, als ich dazutrat. Er hätte berufenere Bergfreunde für diese Würdigung gehabt, etwa E. Benisch, F. Lange, O. Langl, F. Mischke, R. Schwarzgruber, A. Stickelberger oder Uli Sild. Doch sie sind entweder im Kriege gefallen und verschollen oder inzwischen verstorben. Zu manchem war die alte Verbindung durch die Ungunst der Zeit auch vorzeitig abgerissen. Schon darin und in vielen anderen Beziehungen spiegelt das Leben Mierischs die Umbrüche und Zäsuren unseres Jahrhunderts wider.
Er war ein Repräsentant jener großen Generation der alpenfernen Bergsteiger zwischen beiden Weltkriegen, jener „Extremen", die nie viel Aufhebens von sich machten.
Nur mit seinen meisterhaften Bergaufnahmen trat Mierisch hin und wieder an die Öffentlichkeit. Vor dem zweiten Weltkrieg finden wir fast in jedem Jahrgang von Blodigs Alpenkalender Bilder von ihm, auch in einem der Bergbücher von Luis Trenker. Damals stieg er noch mit einer Plattenkamera samt Stativ auf die Gipfel! Und die liebevolle Ausarbeitung der Bildausbeute eines Bergsommers half dann jedesmal, die alpenferne Winterzeit in Wolfen/Bitterfeld zu überbrücken, ehe das neue Bergsteigerjahr mit einem Schiurlaub im Frühjahr und schweren Touren im Elbsandstein-Gebirge wieder anhob. Von diesem glückvollen Rhythmus der zwanziger und dreißiger Jahre berichtet sein Tourenbuch, aus dem mir seine Tochter, Frau Ursula Rest, Dormagen, in dankenswerter Weise eine kurze Zusammenstellung übermittelte.
Die äußerlichen Daten eines Lebens sind leicht skizziert, die inneren Strömungen und Entwicklungsstufen lassen sich nur erahnen: In seinem Geburtsort Stülpe, einem kleinen märkischen Dorf im Kreise Luckenwalde, besuchte Willy Mierisch zunächst die Dorfschule und ging später nach Berlin, um das Photographieren zu lernen. Schon 1913 trat er in die Agfa-Filmfabrik (Wolfen) ein, der er bis zu seiner Pensionierung, zuletzt als Leiter der Filmprüfstelle, angehörte. Im ersten Weltkrieg war er Soldat wie jeder andere, ein Leben also in den üblichen Bahnen seiner Zeit.
Doch 1912 war ein Umbruch eingetreten, dessen tiefere Ursache wir nie mehr erfahren werden: Als junger Mann von 25 Jahren, der bis dahin das Hochgebirge nur vom Hörensagen kennen konnte, fährt Willy Mierisch von Berlin aus in die Alpen! Er überschreitet das Pfitscher-Joch, das Penser-Joch und den Grasleitenpaß. Das genügt. Die Berge haben ihn für immer gefesselt. Noch im gleichen Jahr tritt er der Sektion Mark Brandenburg des DuÖAV bei. 1913 überschreitet er schon die Alpeiner-Scharte und besteigt („mit Führer", vermerkte er im Tourenbuch) den Kraxentrager; Sass Rigais und Boe-Spitze folgen.
Dann unterbricht der Krieg die Eintragungen im Tourenbuch. Aber von 1919 ab fehlt bis 1962 fast kein Jahr mehr darin. Zahl und Schwierigkeit der Touren steigen rasch an und finden in den dreißiger Jahren ihren Höhepunkt. 1923 tauchen die ersten Eintragungen über Kletterfahrten im Elbsandsteingebirge in seinem Tourenbuch auf. Mit 36 .Jahren also wurde er dort erst aktiv, wo er fortan seine „zweite Heimat" fand, in zahllosen Wochenenden und Kurzurlauben. Seine „Ernte" hat er am Ende seines Lebens noch selbst zusammengestellt: Auf 242 verschiedenen Gipfeln des Elbsandsteingebirges stand er 936mal, wobei große und äußerst schwierige Touren zu verzeichnen sind.
Doch die fernen Alpengipfel zogen ihn Jahr für Jahr stärker an. Seine eigene Bilanz weist 371 Gipfel auf. Dabei fehlt fast keine Gruppe der Ostalpen. In den Dolomiten fühlte er sich am heimischsten. Hier führte er seine schwierigsten Touren durch, wie etwa 1929 die 37. Begehung der Schleierkante, 1931 die 7. Begehung des Südkamines der Ca d'Armi, 1933 die zweite führerlose Überschreitung des Elfer in den Sextner Dolomiten oder 1936 (mit 49 Jahren) die 38. Überschreitung des Val di Roda-Kammes. Zweimal stand er auf der Guglia die Brenta. Erfüllte Sommerwochen im Gebirge!
Auf seinen Wegen in den Bergen fand er Seilgefährten, meist aus dem Wiener Raum, denen er sich sehr verbunden fühlte. So trat er dann auch 1928 dem Österreichischen Alpenklub bei. Mit seinen Klubkameraden Sild, Schwarzgruber und Stickelberger gelang ihm unter anderem 1934 die 20. Begehung der Piz-Badile-Nordkante. Von 1935 an wandte er sich auch mehr dem Eis der Westalpen zu. Es wurden noch 23 Gipfel. Zmuttgrat und Hörnligrat (allein!) am Matterhorn wie der Nadelgrat zählten zu seinen schönsten Erinnerungen.
Der zweite Weltkrieg riß auch für Willy Mierisch die Welt wieder einmal auseinander. Die Alpen waren — von Wolfen bzw. Bitterfeld aus — in schier unerreichbare Fernen gerückt. Und trotzdem saß er 1947 vor dem Biwakblock im Schöllhornkar und stieg mit uns — als Sechzigjähriger! — am nächsten Morgen durch die Watzmann¬Ostwand. Was für Schwierigkeiten und Gefahren hatte er gemeistert, um erst einmal bis zum Einstieg gelangen zu können! Er sprach nie viel darüber. Das war wohl selbstverständlich. Denn im nächsten Jahr gingen wir dann zusammen den Teufelsgrat im Wetterstein. Doch die politische Trennung von den Bergen wurde für ihn auf die Dauer unerträglich. Mit seiner Pensionierung 1952 übersiedelte er deshalb nach Kürten im Bergischen Land in die Nähe seiner Tochter. Auf der Suche nach Gleichgesinnten trat er 1950 der Sektion Bayerland des DAV bei, da seine alte Sektion Mark Brandenburg bei Kriegsende untergegangen und die Verbindung zu den Wiener Freunden zunächst abgerissen war. Doch auch das letzte Jahrzehnt war noch erfüllt von Bergtouren, die er meist gemeinsam mit Frau, Tochter und Schwiegersohn durchführte.
Zu seinem letzten Klettersommer, 1962, gewährten die geliebten Dolomiten dem nun 75jährigen bei strahlendem blauen Himmel noch einmal eine Besteigung der Großen Zinne. Ein Jahr später brach er sich dann beim Schifahren am Hochjoch-Hospiz den linken Unterschenkel gleich dreimal. Trotzdem er im nächsten Sommer in den Julischen Alpen mit eiserner Energie wieder einen „Touristenberg", wie er mir schrieb, bestieg, beendete dieser Schiunfall unerbittlich die hohen Wege von Willy Mierisch. Der Rest war noch Erinnerung. Vorbei!
Ein Bergsteigerleben zwischen flachem Land und fernen Gipfeln. Excelsior ..
Hans-Jochen Schneider
Quelle: Österreichische Alpenzeitung 1969, November/Dezember, Folge 1368, Seite 151 - 153
Geboren am:
07.03.1887
Gestorben am:
13.12.1968