Seidl Hans
(
Bearbeiten)
Biografie:
Dr. Hans Seidel (+)
Mir fällt es schwer, meinem eigenen Vater einen Nachruf zu halten. Für mich ist er mein alle anderen so sehr überragendes, ideales Vorbild, für mich war er mein bester Freund; so muß ich mich fürchten, in ein eitles Schwärmen zu verfallen, und wenn ich sachlich bleiben will, glaube ich ihm wiederum nicht gerecht werden zu können. Auch ist es mir unmöglich, ihn nur als Bergsteiger zu umreißen, da er dies in den Jahren, aus denen
ich meine lebendigsten und tiefsten Eindrücke von ihm empfing, nur mehr „am Rande" und nur mehr sehr „gemäßigt" war. Mir schien er eine seltene Persönlichkeit gewesen zu sein! Ob das nur die Liebe macht, mit der man jemanden betrachtet und beurteilt? Schlicht, einfach und wahr, trotz Selbstsicherheit, Selbstachtung und Gewandtheit; vornehm, klar und kritisch, mit festem eigenem Urteil, ohne besserwißend und schroff zu sein; teilnehmend und fähig, sich mitzufreuen, als ihm schon längst die meisten unmittelbaren Freuden versagt waren; warmherzig und gütig, wenn er auch mit Sarkasmus und innerer Überlegenheit die meisten seiner Mitmenschen betrachtete.
Ja, er hatte sich sogar trotz seines scharfen Verstandes und abgeklärten Urteils noch ein Nestchen von echter Begeisterungsfähigkeit für große Geschehnisse erhalten, auch wenn sie außerhalb der unwandelbaren Schönheiten von Kunst und Natur lagen, denen seine kärglichen freien Stunden und Ferien gewidmet waren. Er verehrte die Größe, nicht aber die Maste. Humor und ein beschauliches Schmunzeln hatte er sich trotz immer schwerer überwindbarer Verbitterungen bis ans Ende seines Lebens erhalten, das, solange ich mich seiner erinnere, fast vollständig durch die Treue zu seinen selbstgestellten Pflichten beherrscht und ausgefüllt war.
In Krempls Apachenfahrten ist er einmal kurz als fröhliches und übermütiges Mitglied des Innsbrucker Apachenzweiges erwähnt; so preisen ihn alle seine alten Bekannten, so muß er wohl in seinen jungen Bergsteigerjahren gewesen sein.
Den ÖAK. muß wohl allein seine alpine Tätigkeit interessieren. Die Wurzeln hiezu lagen sicher in seiner Reiselust und Entdeckerfreude, die er auch außerhalb der Berge bewies. Als Sudetendeutscher aus dem Riesengebirge zog es ihn schon als Gymnasiasten und später als Prager Studenten mehrmals in die Alpen. So kam es wohl, daß er schließlich an die Innsbrucker Universität zog, wo er im Kreise des Akad. Alpenklubs, dessen Vorstand er auch ein Semester lang war, so viel an Leckerbisten aus den schönsten und bedeutendsten Berggruppen herausholte, daß ich in zwei Jahrzehnten kaum allen seinen Spuren folgen konnte. Es war immer sein Ziel, Vieles und Neues kennenzulernen, nicht die letzten Varianten eines Lieblingsgebietes, sondern einen weiten Überblick über die schönsten Teile der Alpen. So war es ihm in den Bergen, wie auch sonst im Leben, um
ein vielseitiges und sich abrundendes Erfaßen des „Erforschlichen" zu tun.
Er kannte vom Montblanc übers Wallis, Bernina, Silvretta, Rätikon, Ortler, Dolomiten, Ötztaler, Stubaier, Zillertaler, über Teile der Hohen Tauern und der Niederen Tauern die meisten bedeutenden Berggruppen, bis in seine spätere steirische Wahlheimat, die Berge um Eisenerz. Damals noch einsame Berge, wie die Lechtaler, den damals in der ersten Erschließung stehenden Kaunergrat und das Ferwall bevorzugte er gegenüber den Modekletterbergen.
Mit der Übernahme einer ärztlichen Land- und Industriepraxis hatte er die Bergsteigerei sehr einschränken müßen, das weite Umherreisen in allen Teilen der Alpen — viel zu Rad — machte einem räumlich begrenzteren, wohl zum Ausgleich intensiveren Kennenlernen der obersteirischen Heimat Platz, wozu viel die Jagd beitrug, bis etwa seit 1930 Gesundheit und Berufsaufgaben auch diesen Freuden ein Ende setzten.
Als er selbst nicht mehr in die Berge kam, machte er im Geist und auf der Karte noch einmal die Bergfahrten seiner drei Kinder mit und regte uns und andere zur Erweiterung unseres alpinen Gesichtskreises an. So wie wir die Berge sehen und suchen, das haben wir — ohne viele Worte — wohl von ihm, so freut es uns, und das danken wir ihm.
Trotzdem er recht früh das ausgreifende, erfolgreiche Bergsteigen einstellen mußte und viele alte persönliche Beziehungen abrissen, blieb er doch dem ÖAK. anhänglich verbunden. Mit vielen seiner älteren Mitglieder verbanden ihn, wie ich aus manchen Erzählungen weiß, gemeinsame Erinnerungen an gemeinsame Fahrten von der Rax bis zum Montblanc.
Dr. Seidel.
Quelle: Österr. Alpenzeitung 1949, Folge 1248, Seite 210