Nordwestgrat

(Bearbeiten)
Routen Details:
Silvretta-Gruppe.
Verstanklahorn (I. Erst. über die Nordwand und den Nordwestgrat, und Überquerung mit neuer Abstiegsvariante über die Südwestwand). 28. September 1897. Ohne Führer von der Silvretta-Hütte aus auf der bekannten Strecke über den Silvrettagletscher zu den Krämerköpfen. Von diesen aus übersieht man vollständig den Verlauf unserer Route. Vom Nordwestgrate zweigt eine secundäre Gratrippe nach Norden ab, und zwar ungefähr da, wo der Nordwestgrat seine Biegung nach Westen gegen die Verstanklaköpfe beginnt. Diese wenig ausgebildete secundäre Gratrippe sendet ihre Felsen weit zu dem Verstanklagletscher hinab. Etwas links von der Stelle, an welcher die Felsen am tiefsten herabreichen, fast genau südlich gegenüber Punkt 2812 der Krämerköpfe (Siegfried-Atlas), findet der Einstieg in die Felsen statt. Oberhalb des Einstieges zieht ein gerader Riss empor, in dessen directer Fortsetzung man den Grat zu erreichen sucht. Einige Steilstufen und zwei riesige Gratthürme zwingen zweimal, den Grat wieder zu verlassen und nach der Nordwand auszuweichen, bis schliesslich der Schlussgrat bis zum Gipfel verfolgt wird.
Bei Wiederholung der Tour können folgende Einzelheiten unserer Besteigung Nachfolgern von Nutzen sein: Ab Silvretta-Hütte 3h 20 m, an Krämerköpfe 5h 5 min - 5 h 52 min. Zwischen diesen und dem westlichen Felsausläufer des Gletscherkammes, über. den sich zum Verstanklagletscher absenkenden Firnhang hinab. Verstanklagletscher gequert zu der Stelle, an welcher die Randkluft ganz überbrückt ist, links. neben den am tiefsten herabreichenden Felsen des Verstanklahorns (6 Uhr 50 min). Dort Einstieg leicht, sofort kurzer Quergang nach links zu kleinem Schneefelde (sonst Geröll, erste Terrasse). Von da etwäs rechts haltend über gestuften Fels zu einem bastionartigen Felsvorsprunge (Steinmann erbaut, Frühstücksplatz, 7 Uhr 10 min - 7 Uhr 45 min). Von dieser Stelle etwas nach links direct unter den durch grüne Pflanzenpolster zu beiden Seiten gut kenntlichen Riss. Darin empor, bis er ungangbar wird (überhängend, sehr faules Gestein). Kurzer Quergang nach links mit wenigen, kleinen Griffen (kleiner Mauerhaken), dann stets links dicht neben dem Risse empor, bis schwierige Platten es ermöglichen, nach rechts wieder in denselben zu gelangen. Äusserst schwierig (überhängend) empor; in Reichweite grosser Mauerhaken eingetrieben, erst als Griff, dann als Tritt zu benützen. Oben nur allernötigste Griffe (plattig), zu einem kleinen geröll- und schneeerfüllten Standpunkte im Risse (hier Seilversicherung möglich). Direkt empor, beide Pickelhauen als Tritte in kleinen Felsrissen übereinander verklemmt. Sehr schwierig mittelst menschlichen Steigbaumes auf Schultern und Kopf empor. Oben wird der Riss etwas flacher, zeigt geringere Neigung, sowie mehr und bessere Griffe. Von da etwas nach links, verhältnismässig leichter, aber immer noch schwierig über gestuften Fels empor zu kleinem schneebedeckten Geröllfelde; in kleiner Felsnische erster guter Ruhepunkt (10 Uhr 20 — 10 Uhr 3o min). Von der Nische über neuschneebedeckte Stufen empor zur zweiten grösseren Geröllterrasse (10 Uhr 45 min — 11 Uhr 10 min). Von diesem Platze (unter dem senkrechten Abfalle einer Felsrippe) nach rechts aufwärts, Querung einer Eisrinne in ca. 12 Stufen zu einem kleinen Kamine; durch diesen hinauf, dann über gestuften Fels auf der durch die Möglichkeit gegebenen Route schwierig empor in ziemlich gerader Richtung bis zu einem oben senkrechten Kamine (derselbe war nass und schlecht gangbar). Zuerst ein kleines Stück darin empor, bis zur Rechten ein senkrechter Riss, welcher durch die Felswand des Massivs (zur Linken) und eine ganz daranstossende Platte (zur Rechten) gebildet wird, das Fortkommen ermöglicht. Schwierig darin hinauf zu einem kleinen, schräg nach aussen abfallenden Gesimse. Bergung von Rucksäcken und Pickeln nothdürftig möglich. In äusserst prekärer Stellung Anwendung des menschlichen Steigbaumes zur Überwindung einer unten etwas überhängenden, oben senkrechten Wandstufe (oben lockere Steine). Mittelst Nachschiebens an den Beinen durch den unten Stehenden wird ein fester Griff erreicht und eine kleine Plattform betreten (diese Stelle ist nur für zwei lange Leute möglich und erforderte das Einsetzen unserer ganzen Kraft). Nun schwierig weiter empor etwas nach links in einer flachen, neuschneeerfüllten Verschneidung zum Grate, fast in gerader Linie über der Einstiegsstelle (1 Uhr 55 min - 2 Uhr 10 min, Karte im Felsrisse deponiert). Zuerst ein Stück rittlings über den Grat, hierauf wieder in die Nordwand. Nach Querung einer Eisrinne in der Nordwand abermals schwierig zum Grate; über Steilstufen desselben soweit als möglich empor, bis er abermals ungangbar wird. An dieser Stelle müssen zwei riesige Grattürme (sehr auffallend), von denen der nördliche einen gespaltenen Gipfelblock trägt, nach links (nördlich) umgangen werden; hierauf wird die Gratkante verhältnismässig unschwierig wiedergewonnen und der Gipfel über dieselbe in leichter Kletterei erreicht (5 h abends, kalter Wind, Aussicht vielfach von Nebel verhüllt, Rast bis 5 Uhr 45 min).
Beabsichtigt war der Abstieg auf dem gewöhnlichen Westwege, da wir jedoch zu früh nach rechts abbogen, führten wir unfreiwillig eine neue, bei Vereisung des Schneehanges zwischen Verstanklahorn und Schwarzkopf aber empfehlenswerte Variante auf der Südwestflanke aus. Vom Gipfel südwestlich abwärts über schrofige Platten, dann auf einer Felsrippe rechts längs einer Schneerinne hinab. Nach Querung der letzteren unten an ihrer schmalsten Stelle (drei Stufen) wird auf einer Felsrippe abwärts geklettert, welche den vom Vernelasattel* herabziehenden Schneehang rechts flankiert. Stellenweise etwas schwierig, kurz vor dem Übergang auf den Schneehang Abseilstelle. Schnee in vorzüglichem Zustande. An Bergschrund 7 Uhr 30 min Leicht über Vernelagletscher in der Dämmerung abfahrend in das Vernelathal. Bei strömendem Gewitterregen und dichtem Nebel talauswärts zur Vereina-Hütte (11 Uhr 30 min).
Diese Tour ist die schwierigste und anstrengendste, aber auch interessanteste, die ich bis jetzt in der Silvretta-Gruppe unternommen habe. Die Kletterei unserer Nordroute ist fast durchwegs ausserordentlich schwierig und verlangt wegen des brüchigen Gesteins eine ernste, Ruhe und Vorsicht heischende Arbeit, bei der es notwendig ist, dass beide Gefährten sich aufeinander verlassen können. Loslösen von Steinen durch den Vorankletternden lässt sich nicht vermeiden. Bedeutende Zeitersparnis werden Nachfolger auf unserem Wege dann machen, wenn sie keinen Neuschneebelag vorfinden, so dass nicht fast alle Griffe erst freigekratzt und die Hände nicht alle Augenblicke erwärmt zu werden brauchen.
Dr. Willy v. Frerichs-Berlin, Wilhelm Paulcke-Freiburg i. B.
* Eine Bezeichnung,die wir als praktisch für den zwischen Verstanklahorn und Schwarzkopf befindlichen Sattel vorschlagen möchten. Desgleichen empfehlen wir für die zwischen Thorwache und Verstanklahorn befindliche Einsenkung den Namen "Verstanklasattel".
Quelle: Österreichische Alpenzeitung 1898, Folge 499 – 3.März, Seite 62-63

Datum erste Besteigung:
28.09.1897
Gipfel:
Verstanklahorn
Erste(r) Besteiger(in):
Fredrichs W.v.
Paulcke Wilhelm