Nordostgrat

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Routen Details:
Stubaier-Gruppe (Serloskamm).
Äussere Ilmspitze (2690 m) über die Nordostflanke. Herr Hermann Stieger und ich waren am 29. Juni 1896 voll grosser Pläne in das wildromantische Pinnisthal gekommen und hatten in einem Heustadel gegenüber der Pinniser Alm ein günstiges Nachtlager gefunden. Leider waren am nächsten Morgen Berg und Thal in feuchtem Nebel begraben. Ein feiner Regen rieselte hernieder. Ohne Hoffnung sanken wir auf das Heulager zurück. Endlich entschlossen wir uns, über das Kirchthürl (ca. 2450m) nach Gschnitz zu. wandern. Nach zweistündigem, recht beschwerlichem Aufstiege über Geröll und lästigen Neuschnee standen wir auf dem sturmumtosten Übergangspunkte (etwa um I2h mittags), der tiefen Einschartung zwischen (nördlich) Thorsäule und (südlich) Ilmspitze. Beide Berge streben in mächtigen Wänden aus der Scharte empor. Ihre Umrisse verloren sich damals im wogenden Nebel, der nur selten, durch heftige Windstösse etwas gelichtet, einen Blick auf den steilen Aufbau des plattigen Gewändes zuliess. Trotz dieser ungünstigen Verhältnisse wollten wir doch noch einen Versuch machen. Wir entschieden uns für die Ilmspitze.
Wir wussten, dass der gewöhnliche Anstieg sich vorwiegend auf der Westseite des Berges voll-zieht. Heute konnte es nicht so genau genommen werden, da die Witterungsverhältnisse den Überblick verhinderten. So beschlossen wir also, aufs Geratewohl aufwärts zu steigen, soweit es nur ginge. Durch eine gut gangbare kaminartige Rinne und über eine steile, plattige, nasse und daher durchaus nicht leichte Wand, der ein nach links ziehendes, von einem senkrechten Kamine unterbrochenes Band folgte, gelangten wir auf einen ungefähr westöstlich streichenden Grat. Eine kurze Lichtung des Nebels zeigte uns, dass dieser Grat vom südwärts liegenden Hauptmassiv durch eine tiefe und breite Einfurchung getrennt ist. Durch eine steile, oben sehr brüchige, unten vereiste Rinne stiegen wir in diese Schlucht hinab, übersetzten ihre schneeerfüllte Sohle und wanderten jenseits über ein leicht begehbares Gehänge, immer in südlicher Richtung, hinauf. Die zunehmende Steilheit des Hanges, der zuletzt in eine Plattenwand überging, drängte uns nach Osten in eine Runse. Ihre Fortsetzung war ein nach oben immer enger werdender Kamin, den wir so lange im Schweisse des Angesichtes durchstiegen, als es das Gesetz der Undurchdringlichkeit der Körper gestattete. Dann brachte uns ein gewagter Spreizschritt, der die Vortheile unserer ansehnlichen Gliedmassen offenbarte, an die Ostkante dieses athembeklemmenden Risses. Nach wenigen Schritten standen wir auf der ersten Stufe. Vor uns erstreckte sich ein mässig ansteigendes Schuttfeld, welches oben durch einen plattigen Wall abgeschlossen wurde, über dem sich abermals eine Schuttfläche befand. Was darüber lag, verdeckte der neidische Nebel. Den Plattenwall überwanden wir an seinem Ostende. Gegenseitige Unterstützung war an dieser etwas ausgesetzten Stelle nothwendig. Wir querten nun auf dem theilweise mit Schnee bedeckten Schuttstreifen westwärts bis zum Hauptgrate, den wir dort erreichten, wo die oben erwähnte, von uns früher überschrittene Furche als schluchtartige Rinne anfängt. Wir sahen jetzt zum ersten Male in das Pinnisthal hinab, d. h. in das Brodeln des im Thal-grunde gelagerten Nebelbreies. Der bisherige feine Regen verwandelte sich in leichtes, nässendes Schneegeflock. Leicht ging es nun dem Grat entlang, bis wir vor einem quer über ihn streichenden, mitten durch, genau in der Richtung des Grates, gespaltenen Felsgerüste standen. Nach Überschreitung dieses merkwürdigen Gratpasses, dessen rechts und links aufragende Wartthürme wir bestiegen, kamen wir an einem nicht minder auffälligen feigenförmigen Gratzacken vorbei und gelangten kurz darauf zu einem mächtigen Felsbaue, dessen Scheitel in den Nebel hineinragte. Auf einem Vorsprunge des Grates erhob sich ein Steinmannl. Wir standen also auf früher betretenem Boden. Wahrscheinlich führt hier irgendwo der Westweg auf den Grat herauf. Da die schmalen Bänder auf der Westseite des Felsmassivs, welche die natürliche Fortsetzung der Anstiegslinie gebildet hätten, wegen des schlüpfrigen Neuschnees nicht betreten werden konnten, verfolgten wir ein Band auf der Ostseite, das eine recht unangenehme Stelle aufwies. Wir erreichten ein kleines Schneefeld, von dem ein senkrechter, schwieriger Kamin zu einer Gratscharte emporführt, welche nördlich und südlich von je einem bedeutenden Thurme überragt wird. Vom bis dahin unbesuchten Nordthurme, dessen Besteigung wegen des brüchigen Gesteins Vorsicht erforderte, sahen wir, dass der südliche Thurm die lange gesuchte Ilmspitze sei. Wir erstiegen sie von der Scharte aus über eine schwierige Plattenstufe und den heiklen Nordgrat. Die Aussicht müsste recht interessant sein. Wir sahen damals allerdings nur manchmal die Klippen der Inneren Spitze aus dem Nebel hervortauchen. Von der Äusseren Ilmspitze, die Pichler Starkenburgerspitze genannt hat, stiegen wir über die Südwand ab, querten am Westfusse des Gipfelaufbaues nordwärts und gelangten so wieder in die vorhin erwähnte Gratscharte, von der wir auf unserer Anstiegslinie weiter abstiegen. Am Beginne der grossen Schlucht angelangt, schlugen wir nicht mehr unseren complicierten Plattenstufenweg ein, sondern stiegen durch die Schlucht selbst ab. Ein Absatz bereitete grosse Schwierigkeit. Von der Schlucht kehrten wir über den eingangs des Berichtes erwähnten Grat zum Kirchthürl zurück, um dann eilends nach Gschnitz hinabzusteigen, wo wir um 8h abends vollständig durchnässt ankamen.
Die von uns eingeschlagene Wegrichtung auf die Äussere Ilmspitze dürfte grösstentheils neu sein. Wenn es möglich ist, durch die grosse Schlucht vollständig auf die vom Kirchthürl gegen Gschnitz hinabziehende Schutthalde hinunterzusteigen, so wäre damit ein recht interessanter, praktisch bedeutsamer Weg erschlossen, der sich besonders für den Abstieg eignen würde.
Carl Forcher-Mayr, Innsbruck
Quelle: Österreichische Alpenzeitung 1898, Folge 6. Jänner, Seite 8-9

Datum erste Besteigung:
29.06.1896
Gipfel:
Ilmspitze Äußere
Erste(r) Besteiger(in):
Forcher-Mayr C.
Stieger Hermann