Nordwand

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Routen Details:
Die Nordwand des Hochgalls.
Von Prof. Rudolf Schwarzgruber, Wien.
Am 17. Juli 1934 traf ich Uli Sild in Bruneck, und noch am selben Abend waren wir auf der Kasseler Hütte. Die Reise ging außerordentlich bequem vor sich, denn mein Freund besitzt eine „Puch 500cm³", und mit dieser schönen Maschine waren wir bald in Sand
und auch bald darauf in Rain, wohin eine sehr malerische, aber für Motorräder nicht ganz ideale Straße hinaufführt. Knapp vor Rain sahen wir zum erstenmal den Hochgall, und zwar gleich von der richtigen Seite: von Norden. Ich war, offen gestanden, überrascht
von der Steilheit dieser Flanke, und Ali war es jedenfalls noch viel mehr. Mein Freund Dr. Brandenstein hat mir einmal gesagt, daß die Hochgallwand die steilste sei, die - er in den Ostalpen kennt. Anuch ich muß ihm recht geben. Auf der Hütte trafen wir eine Reihe bekannter
Sektionskameraden, und der Zufall wollte es, daß die deutschen Bergsteiger auf der Hütte alle derselben Sektion, der Akademischen Sektion Wien, angehörten. Am nächsten Tag stiegen unsere Freunde über den gewöhnlichen Weg auf den Hochgall, gefolgt von zahlreichen Alpini, die mit ihren Offizieren in Ausrüstung mit Sandmaschinengewehren in einem Zug von Rain auf den Gipfel des Hochgalls gingen. Wir wollten an diesem Tag die Wand nur untersuchen. Aus zweierlei Gründen war ich gegen den sofortigen Angriff: erstens war diese Fahrt unsere erste in diesem Sommer, und zweitens wußten wir nicht, wieviel Schnee liege und wie er aussehen werde. Diefer Entschluß war gut und schlecht: gut, weil er überlegt worden war und weil wir am ersten Tag bestimmt nicht den Gipfel gefunden hätten; schlecht, weil an diesem Tag die Schneeverhältnisse ausgezeichnet, am nächsten Tag jedoch ganz schlecht waren. Dieser erste Tag war prachtvoll, und am Morgen war es bitter kalt. Noch am Vormittag, als wir in den Gletscher der Nordseite einstiegen, hatten wir oft gefrorene Wasseradern überschritten. Dieser Tag war, wie uns erzählt wurde, der zweite schöne Tag nach längerem Schlechtwetter. Die Sonne des Vortages hatte, den Schnee schön hergerichtet, und jetzt trug er herrlich. Wir sahen von unserem Standplatz im Gletscher die Gruppen über uns auf dem vermutlichen Gipfel, der aber, wie unsere Freunde uns später sagten, ein niedriger Vorgipfel ist. Der Hochgall gipfelt nämlich in einem etwa 60 oder 89 m langen, sehr scharfen Felsgrat. Dieser fast waagrechte Grat war damals gänzlich mit Schnee bedeckt und mit herrlichen Wächten geziert, von welchen die einen sich nach Norden, die anderen nach Süden neigten. Es war damals auffällig, daß die Zentral- und Südalpen noch viel Schnee hatten, wogegen die Nördlichen Kalkalpen bereits Ende Mai nur mehr sommerliche Schneebedeckung trugen. Wir spurten bis zu einer geeigneten Stelle am Bergschrund und untersuchten die darüberhängende Firnwand: sie war in ausgezeichnetem Zustand! Wir machten uns auf den Rückweg fast mit dem Gefühl, als ob wir die Wand bereits durchstiegen hätten. Am nächsten Tag aber kam es ganz, ganz anders! Am 19. Juli, um 3.15 Ahr, verließen wir die Hütte. Im Westen stand eine Wolkenbank. Ein leichter Wind blies aus dem Tale. Noch glaubten wir, daß es kalt sei, aber als wir nirgends Eis fanden und wir alle kleinen Wässerlein rieseln hörten, wußten wir, daß der Tag anders werden würde, als wir ihn wünschten. Wir gingen ohne Licht, und bald erreichten wir den Gletscher. Es stellte sich zu unserer Überraschung heraus, daß der Schnee gut trug; wir gingen wie über gefrorenen Boden, und nur höher oben stiegen wir in leichtem Bruchharsch.
Seither war es licht geworden/ aber der Tag ließ sich ganz so an, wie wir es bei unserem Aufbruch befürchtet hatten. Schon war der obere Teil der Nordwand im Nebel, und die dunkle Wolkenwand im Westen stieg immer höher. Fünf Minuten vor 6 ilhr standen wir am Bergschrund. Anser Spuren vom Vortag war wertlos geworden, weil der Gipfel sich nicht dort befand, wo wir ihn vermutet hatten. Dies ist wohl der Grund, daß die wenigen Besteigungen des Berges von dieser Seite nicht auf den Gipfel in gerader Wegführung gelangen. Die Besteiger wußten eben nicht, wo der Gipfel sich befindet, und hielten den erwähnten Westgipfel, der sich von unten als der Hauptgipfel gibt, für ihr Ziel. Es gibt aber eine verläßliche Richtschnur zur Erreichung des Gipfelgrates: ungefähr aus der halben Höhe der Wand zieht im östlichen Teil eine Firn- oder Eisrinne, die auf einer sehr deutlichen Felskanzel aufsitzt, gegen den Gipfelgrat empor. Etwa eine Seillänge westlich dürfte der höchste Punkt liegen. Wenigstens lag er damals dort, was aber bei aperen Felsen nicht ebenso sein muß. Wir legten die Steigeisen an, und ich versuchte, den Bergschrund möglichst nahe in der Fallinie des Gipfels zu überschreiten. Aber alle Versuche scheiterten; teils weil die obere Lippe unerreichbar war, teils weil die noch vorhandenen Brücken aus zu weichem Schnee waren. Die Verhältnisse über dem Schrund waren überhaupt viel schlechter als auf dem flachen Gletscher: von dem oberen Rande des Schrundes tropfte es ohne Pause. Jeder vernünftige Bergsteiger mußte sich in dieser Lage fragen, ob nicht ein Verzicht auf die Wand angezeigt wäre. Die Frage aber wäre mit einem geradezu kategorischen „Verzichte!" zu beantworten gewesen, weshalb ich mich hütete, sie ernsthaft zu stellen. Es war ja auch zu dumm! Gestern zum Auskundschaften herrlichstes Wetter und bester Schnee, heute gerade das Gegenteil. Aber die Tatsachen hätten mich veranlassen sollen, von der Ausführung abzusehen. Trotzdem stiegen wir ein. Es sollte die erste Fahrt werden, die mein Freund Ali und ich zusammen ausführen wollten. Der Verzicht wäre zu hart gewesen. Vergsteigerisch war unser Tun zu verurteilen! Der Einstieg in die Wand lag weit östlich von unserem Aufstieg auf den Grat. Es ging aber nicht anders. Nachdem es uns geglückt war, die eigentliche Nordflanke über eine recht morsche Brücke zu erreichen, war unsere Aufgabe, die zahlreichen Eisrinnen zu
queren und die Jone vereister Felsen zu. erreichen, die sich zu der schon erwähnten Felskanzel verjüngt. Mit Steigeisenkunststücken konnten wir hier nichts anfangen, denn der Schnee, der knietief auf dem Eise lag, war vollkommen durchnäßt und morsch. Die warme Sonne des Vortages hatte ihn aufgeweicht, und in der lauen Luft der Nacht war er nicht anders geworden. Ich grub mit der Schaufel Löcher, und in diese hinein schlug ich, wenn es notwendig, war, Stufen. Wir kamen bald in die Nähe der Felszone, nur die Eisrinnen erforderten kleine Kerben auch für die Hände. Die Felszone zu überwinden dauerte länger, als geplant war, denn zwischen den Felsen lag Schmelzeis unter dem Schnee. Aber wir hatten das Gefühl großer Sicherheit: einerseits weil wir uns bei den Felsvorsprüngen recht angenehm sichern konnten, und andererseits weil wir uns immer mehr in den Schutz der vorgebauten Felsbastion und der Firnrippe begaben. So durchstiegen wir langsam die immer steiler werdenden Felsen des Pfeilers. Schließlich zogen wir es vor, die letzten Seillängen wieder im Firn zu gehen, der hier außerordentlich steil ist, aber trotzdem ein flotteres Weiterkommen versprach als die vereisten, glatten und unangenehm geschichteten Felsen. Aber das „Gehen" war hier eine böse Angelegenheit! Diese zwei Seillängen waren sehr riskant, und ich bereute schon, daß wir den fraglos schwierigen, aber sicheren Fels verlassen hatten. Aber es war nur die Ouvertüre zu dem Schwimmen, oder wie man es nennen will, in der oberen Hälfte der Wand! Als wir den Felskopf erreicht hatten — es war etwa 2 1/2 Stunden nach Übersteigung des Bergschrundes - glaubten wir die „Sache geschmissen" zu haben. Die Enttäuschung kam bald darauf! Der Felskopf ist ein idealer Rastplatz: etwa 2 m im Geviert, mit prachtvoller Aussicht nach oben und unten, gerade in halber Höhe der Wand. Leider sahen
wir gar nichts, denn es war dichter Nebel. Eine Zeitlang glaubten wir sogar, daß es regne, aber es wird wohl nur Nebelreißen gewesen sein. Der Pfeilerkopf ist etwa 4 m von der Wand entfernt, und bei unserer Besteigung führte vom Fels ein zwar kurzer, aber tadellos usgewachsener Firngrat mit nach Westen hinaushängender Wächte zur Rippe hinüber. Selbstverständlich war diese Wächte vollkommen durchweicht. Aber der Vorausgehende war durch den Zweiten, der auf dex. Plattform stand, gut zu sichern. Die Rippe selbst, die uns als ein bequemer Weg erschienen war, enttäuschte uns in zweifacher Hinsicht: erstens war sie viel steiler, als sie aussah (wie immer!), und zweitens war der Schnee so elend, wie ich es nur bei Schituren im Spätfrühling erlebt hatte. Die Stunden, die wir uns die Rippe aufarbeiteten, gehören zu dem Unheimlichsten, was ich bisher im Eisgebirge erlebt habe. Vor allem legten wir die Steigeisen ab. Der Pickel war vollkommen wertlos. Man konnte ihn ohne jede Anstrengung so weit in den Schnee stoßen, wie man wollte, er fand keinen Widerstand. Die Art unserer Aufwärtsbewegung auf der Rippe wird am ehesten dem Wassersportler bekannt vorkommen: während die Arme ähnlich wie bei „Hand-über-Hand" arbeiteten, betrieben die Beine gewissermaßen ein einseitiges Brustschwimmtempo. Der Rhythmus fehlte allerdings ganz, aber davon, abgesehen hatten wir tatsächlich das Gefühl des Schwimmens. Zeitlich geordnet, sahen unsere Tempi so aus: Zuerst wurde für den rechten Fuß ein Loch gestoßen und dann das Bein flach in den Hang gedrückt, das Knie nach außen; dann stieß der linke Arm bis zur Schulter in den Schnee; jetzt wurde mit Hilfe des gestreckten linken Armes das rechte Bein möglichst entlastet und gestreckt und der Körper vorsichtig höher gehoben. Die Abung wurde dann gegengleich fortgesetzt. So habe ich es gemacht; wie Ali heraufgekommen ist, weiß ich heute noch nicht! Wir arbeiteten uns 2 Stunden, wie ich später errechnet habe, auf solche Art empor. Mir schien es viel länger. Glücklicherweise schien die Sonne nur einige Minuten, dann umhüllte uns wieder grauer, warmer Nebel. Als wir etwa zwei Seillängen unter den GipfelWächten standen, brauste der Wind über den Grat und riß mit einem Ruck den Nebel aus der Nordflanke. Die Sonne leuchtete aus strahlendem Blau. Der Hang legte sich jetzt auf etwa 50 Grad zurück. Der Pickel bekam, Gott sei Dank, wieder Arbeit, und bald merkte ich, daß ich Stufen in den Fels hauen wollte. Mit Begeisterung grub ich ein Loch in den Schnee und versenkte dort den ersten und letzten Eishaken in eine Felsritze! Es war eine Lust, die letzte Seillänge Stufen in den vereisten Firn zu schlagen. Punkt 11 Uhr sprang ich nach Durchschlagen einer nach Norden hängenden Wächte auf die warmen, schneefreien Blöcke der Südseite. Schnell folgte mein Freund nach, und wir setzten uns, ohne eine Wort zu sagen, nieder, um zu schauen: die Antholzerseen, das Defreggertal, die Dolomiten!
Kurz nachher schlenderten wir, bald über Wächten schreitend, bald über Blöcke steigend, zum Vermessungszeichen und stiegen etwa 20 m nach Süden zum Steinmann ab. Die Rast muß lange gedauert haben: als wir uns bei dem Steinmann niedersetzten, waren wir naß wie jeder Schwimmer; als wir uns zum Abstieg erhoben, waren wir trocken, sogar das Seil! Unsere Freunde auf der Hütte hatten uns erst ganz oben beim Ausstieg gesehen, als der Wind die Nebel zerriß. Das Finale soll sehr schön ausgesehen haben. „Ganz Bergfilm!" wie einer meiner Bekannten sagte. Ich habe mir geschworen, bei solchen Verhältnissen keine Wand mehr anzugehen. Ich habe es auch gehalten — in diesem Jahre!
Quelle: Mitteilungen des DÖAV 1935, Seite 29-31





Datum erste Besteigung:
19.07.1934
Gipfel:
Hochgall
Erste(r) Besteiger(in):
Schwarzgruber Rudolf
Sild Uli