Neumayr Melchior

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Biografie:
Melchior Neumayr (+)
Langem und schwerem Leiden ist am 29. Jänner dieses Jahres ein Mann erlegen, welchen die Wissenschaft zu einer ihrer Zierden, unser Verein mit Stolz zu den Seinen zählte. Der grosse Kreis der Leser unserer Zeitschrift kennt Melchior Neumayr als den Verfasser der anregenden Aufsätze über Ketten- und Massengebirge, sowie über Bergstürze, welche die letzten Jahrgänge darboten. Den Mitgliedern der S. Austria ist in dauernder Erinnerung jener bescheidene Mann, welcher ebenso lichtvoll vortrug, wie er geschrieben, und in anregendem Gespräche sich ebenso sehr als liebenswürdiger, charaktervoller Mensch wie als allseitig unterrichteter Gelehrter erwies. Nach Tausenden zählen die Leser seiner Erdgeschichte, welche in diesem grossen, schönen Werke reiche, nie ermüdende Belehrung über die Entwicklung unseres Planeten finden. Weiteste Kreise werden das frühe Ende eines solch volksthümlich wirkenden Mannes beklagen, doch am lebhaftesten wird der Verlust desselben dort empfunden und noch durch viele Jahre fühlbar sein, wo Neumayr wirkte und schuf, nämlich auf dem Gebiete der Wissenschaft. Als Geolog und Paläontolog gleich hervorragend, ist Neumayr weit über die Grenzen Deutschlands hinaus als nie rastender, gedankenreicher und fein beobachtender Forscher längst bekannt, und man würde ihn uneingeschränkt zu den europäischen Celebritäten des Faches zählen, wenn ihm die Zeit vergönnt gewesen wäre, die allseitige Anerkennung seiner Thätigkeit zu erleben. So aber schied er mitten in derselben. Erweckte eine überaus stattliche Zahl bereits erschienener Arbeiten die berechtigte Hoffnung auf eine weitere Förderung der Wissenschaft von dem im besten Mannesalter stehenden Gelehrten, so staunten wir, die wir ihm näher standen, noch über die Fülle von Entwürfen für neue Studien und bewunderten ihn, wie er im letzten Jahre, bereits gebrochen an Körper, doch nicht müde ward, die Hand an den Abschluss einiger Studien zu legen. Die Erreichung dieses Zieles ist ihm versagt gewesen. Neumayr's letztes grosses Werk, die Stämme des Thierreiches, ist unvollendet geblieben, und eine Menge von Ideen und Plänen ist mit ihm zu Grabe getragen.
Wie vielseitig nun auch Neumayr's Thätigkeit als Forscher gewesen und wie wahrhaft staunenswerth die Anzahl seiner einzelnen Veröffentlichungen," so schlingt sich durch dieselben doch wie ein roter Faden der Gedanken hindurch , die allmäligen Umgestaltungen der Erdoberfläche samt ihren Bewohnern zu verfolgen. Wie einleuchtend und einfach diese Grundidee auch erscheinen mag, so bezeichnet sie doch einen Gegensatz zu einer bislang herrschend gewesenen Auffassung, nach welcher es Aufgabe des Geologen war, die Schichtfolge blos festzustellen, und Ziel des Paläontologen, die Versteinerungen nur zu beschreiben. Bereits Neumayr's erste Arbeit offenbarte den angedeuteten Grundgedanken: er untersuchte die Gesteinsbeschaffenheit der Juraschichten Württenbergs, um daraus Schlüsse über die Modalitäten von deren Entstehung herzuleiten. Als weitere Verkörperungen dieses Grundgedankens erscheinen die Arbeiten, welche sich mit den Grenzschichten zwischen Jura und Kreideformation beschäftigen. Ältere Geologen meinten hier einen Sprung in der Entwicklung zu erblicken, Neumayr brachte die Ansicht zur vollen Geltung, dass es Übergangsschichten zwischen Jura und Kreide gäbe, die er bis zum Nagy-Hagy-Más an der Grenze Rumäniens verfolgte. Zum vollen Ausdrucke endlich gelangt Neumayr's allgemeine geologische Anschauung in zwei weiteren Studien, in denen er Klima und Geographie der Juraperiode, der Zeit der grossen Saurier, behandelte und den ersten umfassenderen Versuch verwirklichte, die geographischen Zustände früherer Perioden der Erdgeschichte zu ermitteln. Seine „Erdgeschichte" enthält eine Fortführung ähnlicher Erörterungen über spätere Perioden, und wenn die Freunde der Natur, an welche sich das grosse Werk zunächst richtet, darin lichtvolle Belehrungen finden, die sich streng an den Stand der Forschung halten und die Geologie nirgends zu tendenziösen Zwecken ausbeuten, so entrollt sich dem Fachmanne eine bislang noch kaum gewürdigte Auffassung der Geologie als der Geographie verschwundener Perioden, als Paläogeographie. Aus diesem Grunde ist Neumayr's Erdgeschichte dem Fachmanne ebenso ein Kleinod wie jedem Gebildeten, sie bereichert die deutsche Literatur um eines der leider so seltenen Werke, welche populäre Darstellung mit aller wissenschaftlichen Gründlichkeit verbinden, und setzt den grossen historischen Werken ebenbürtig ein erdgeschichtliches zur Seite.
Der Geologe, welcher die Zustände früherer Perioden der Erdgeschichte verfolgt, ist bei seinen Untersuchungen nicht blos auf die Gesteine angewiesen, die damals entstanden, sondern schöpft bekanntlich reiche Belehrung namentlich aus den versteinerten Thierresten jener Zeiten. Der „Paläogeograph" muss Kenner der früheren Formen sein, aber es sind ihm die Versteinerungen nicht blos „Leitfossilien", um darnach das Alter der ihm vorliegenden Schicht zu bestimmen, sondern er betrachtet «dieselben in erster Linie als Überreste von Thieren, deren Verbreitung ihm Einblicke in den Zusammenhang früherer Länder und Meere ermöglicht, und aus deren Aufeinanderfolge er eine allmälige Umwandlung der Lebewesen folgert. In beiden Richtungen war Neumayr ein erfolgreicher Forscher. Auf Grund einiger spärlichen Funde vermochte er z. B. vor Jahren bereits auszusprechen, dass einst, während der Juraperiode, sich ein Meer quer über Centralasien zwischen Russland und Indien erstreckte, und wenige Tage vor seinem Tode ward ihm noch die grosse Freude zu Theil, dass Funde russischer Forscher in den innerasiatischen Gebirgen seine gleichsam prophetisch verkündete und energisch vertheidigte Anschauung erwiesen. Vor Allem aber lernte Neumayr in den Versteinerungen neue Beweise für die Richtigkeit der Anschauungen Darwin's kennen. Er zerlegte das grosse Geschlecht der Ammonshörner in einzelne Gattungen, die er aber nicht blos als Formenkreise, sondern zugleich auch als Entwicklungsreihen auffasste. Er verfolgte z. B. die Herausbildung des Kieles an der Schale, jene von Höckern und Wülsten, und vereinte nicht blos die Formen in eine Gattung, welche gleiche Eigentümlichkeiten bereits vollkommen entwickelt zeigen, sondern auch diejenigen, bei welchen die Entwicklung gleichsam erst von statten geht. Konnte vor 20 Jahren eine lebhafte Discussion ber eine derartige Auffassung stattfinden, so ist dieselbe heute fast allgemein angenommen, namentlich seitdem Neumayr auch gezeigt hat, wie unsere gemeine Sumpfschnecke (Paludina) in gewissen Schichten Slavoniens ganze Entwicklungsreihen aufweist. Fortgesetzte Studien einschlägiger Art lieferten Neumayr das Material für eine grosse Stammesgeschichte der niederen Thiere. Ein Band dieses Werkes erschien im vorigen Jahre, die Vollendung des zweiten hinderte der Tod; zerrissen sind die Gedankenfäden, mit welchen ein weitblickender Forscher die zahllosen versteinten Thierreste mit einander verknüpfte, und es können Jahre verstreichen, bis der verlorne Faden wieder gefunden wird. Setzen Neumayr's zahlreiche Arbeiten das Aufgebot aller geistigen Kräfte voraus, so war er selbst doch keineswegs ein Stubengelehrter. Draussen in der Natur sammelte er Stoff und Anregung für seine, Forschungen. In Schwaben und Franken begann er seine Thätigkeit als Feldgeologe, in den Nordtiroler Alpen setzte er dieselbe fort und schuf hier unter Anderem die Grundlage, auf welcher die geologische Aufnahme des Karwendelgebirges unseres Vereins weiter bauen konnte. Er enträtselte später den eigentümlichen Bau der Klippenzone in den Karpathen. Dann wurde der Orient sein Forschungsfeld. Er leitete eine geologische Aufnahme Nordgriechenlands, welche die kaiserliche Akademie der Wissenschaften in Wien veranlasst hatte, er bestieg den Olymp und den Berg Athos und gelangte bis zum Schar-Dagh. Von den Inseln des ägäischen Meeres fesselte ihn namentlich das kleine Kos. Hier fand er das Beweismaterial für ein jugendliches Alter des östlichen Mittelmeeres und konnte dartun, dass dort, wo heute ein tiefes Meer Europa von Asien trennt, noch am Schlüsse der Tertiärperiode eine Landbrücke vorhanden war. Sein letzter Vortrag, im November gehalten, galt einem neuen Beweise für diese Anschauung, deren volle Tragweite für die Besiedlung Europas mit Pflanzen, Thieren und Menschen noch künftige Untersuchungen offenbaren dürften. In den Alpen plante Neumayr seine geologischen Aufnahmen fortzusetzen. Ihm schwebte vor, ein geologisches Profil quer durch das Gebirge aufzunehmen, und diese Arbeit sollte sich an einen Auftrag unseres Vereins knüpfen, allein zunehmende Kränklichkeit veranlasste ihn, dies Project, bald nachdem er es gefasst, wieder fallen zu lassen. So verknüpfen sich die Alpen in mannigfacher Weise mit der wissenschaftlichen Thätigkeit Neumayr's. Dies kann nicht Wunder nehmen, wenn man beherzigt, dass die Erforschung des grossen europäischen Hochgebirges eine Reihe von Fragen anregte, welche enge Beziehung zu der Grundidee der Neumayr'schen Thätigkeit besitzen. So verlegte denn Neumayr vor mehr denn 20 Jahren seinen Wohnsitz nach Wien, welches damals gerade zum Centrum der „alpinen Geologie" geworden war. Er war hier zunächst im Auftrage der geologischen Reichsanstalt, später als Universitätsprofessor tätig und gründete sich ein schönes Heim. Gleich der Mehrzahl der Alpenforscher schloss er sich unserem Vereine an; er trat bei der Gründung der S. Wien des Deutschen Alpenvereins derselben bei, gehörte dem ersten Sections-Ausschusse (1869/70), dann, als Wien Vorort wurde, dem Central-Ausschusse, und zwar 1870/71 als erster Schriftführer, dann bis 22. November 1872 als Beisitzer an. Den Bestrebungen der S. Austria folgte er namentlich in den letzten Jahren mit erneuerter Teilnahme, dem Gesamtvereine wendete er sein volles Interesse zu. Hiervon zeugen die eingangs erwähnten beiden Artikel unserer Zeitschrift, welche die beiden grossen Vorzüge aller Arbeiten Neumayr's, Klarheit in der Darstellung und Zuverlässigkeit des Inhalts verbinden, so dass sie selbst Fachorgane zur Discussion anregten, welche die Superiorität Neumayr's schlagend bekundet.
In den verschiedensten Zweigen der Geologie und Paläontologie unermüdlich tätig, hat Neumayr durch besonders intensive Arbeit mehr geleistet, als manch langes arbeitsreiches Leben zu schaffen im Stande ist. Ein Verzeichniss seiner Schriften würde mehrere Seiten füllen, obwohl ihm nur vergönnt war, ein Alter von 44 Jahren zu erreichen. Einer hochangesehenen Beamtenfamilie Bayerns entstammend, bewahrte er durch sein ganzes Leben jene Schlichtheit, welche so viele Söhne der Alpen und ihres Vorlandes auszeichnet. Pflichterfüllung war ihm Bedürfniss, Gediegenheit und Reinheit des Charakters adelten seine Natur, in der sich Milde in der Beurteilung Anderer mit der Strenge gegen sich selbst paarten. Und so blieb seine Stimmung aufrecht, als ihn seit einigen Jahren Krankheiten trafen, und als ihn ein allmäliger Verfall seiner körperlichen Kräfte infolge eines Herzleidens die Nähe des Todes wohl ahnen lassen mochte, bewahrte er sich bis zum Schwinden des Bewusstseins die volle Ruhe und Kraft des Geistes, den glühenden Eifer für die Wissenschaft, die hingebende Theilnahme für seine Freunde, die aufopfernde Liebe zu den Seinen.
Albrecht Penck.
Quelle: Mitteilungen des DÖAV 1890, Seite 38-40

Gestorben am:
29.01.1890