Lanz Titus Ritter von

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Biografie:
Titus Ritter von Lanz
*4. Jänner 1897, (+) 4. Februar 1967
Wenn unter zwei vertrauten Bergkameraden der ältere den jüngeren überlebt und dem älteren die Aufgabe zufällt, ein Lebensbild des Freundes zu zeichnen, so ist dies nicht gerade etwas Ungewöhnliches. Den älteren beschleicht aber dabei doch ein eigenartiges Gefühl. Gedanken tauchen auf wie: Warum hat dieser so kraftvolle, von Lebensfreude sprühende Mensch früher als du selbst von dieser Erde scheiden müssen, die er doch auch geliebt hat wie du und viele andere und auf der er noch gerne einige Zeit gelebt und gewirkt hätte?

O Erde, geliebteste Erde!
O Leben, unfaßliches Leben,
aus dieser Erde entglommen,
der Erde der Ähren und Reben,
der Bienen, Ströme und Pferde,
und uns zu eigen gegeben!

sagt Werner Bergengruen, den nun auch schon einige Jahre der grüne Rasen deckt. Ja, er hätte noch gerne gelebt, wie mir die Witwe, mit der wir um einen aufrechten Mann lautersten Charakters trauern, mitteilte. Sie fand einen Zettel in dem Schreibtisch ihres Mannes; auf diesem stand von seiner Hand geschrieben: „Das Wesentliche scheint mir zu sein, was Lin Yütang geschrieben hat: Es gilt, das Leben so einzurichten, daß das sogenannte goldene Lebensalter nicht hinter uns in der Zeit der jugendlichen Unschuld, sondern vor uns in den Jahren des Alters liegt... Ein gesundes Alter ist das größte Menschenglück." Es war ihm nicht beschieden, Mitten in voller Arbeit überfiel ihn eine heimtückische Krankheit, die ihn kurz nach Vollendung seines 70. Lebensjahres dahinraffte.
Hat uns sein Leben etwas zu sagen? Vom Bergsteigerischen her vielleicht weniger, um so mehr von der menschlichen Seite her, denn es war ein außergewöhnliches Leben voller Verheißungen und Versagungen, reich an Erfolgen, höchsten Ehrungen und schwersten Schicksalsschlägen.
Lanz war seit 1925 Mitglied unseres Klubs. Ich lernte Titus von Lanz kurz nach dem Ende des ersten Weltkrieges kennen, den wir beide (blutjunge Studenten) als Frontkämpfer mitgemacht hatten. Wir schlossen bald Freundschaft miteinander und durch¬streiften die Glockner-, die Venedigergruppe, den in köstlicher Abgeschiedenheit liegenden Panargen- oder Lasörlingkamm zwischen dem Virgen- und Defereggental, schließlich die Berninagruppe und das Bergell. Er gehörte nicht zu den Extremen und war — wie ich — der Schlosserei abhold. Es ist ja nicht von ungefähr, welchen Berggefährten man sich zu seinen Fahrten wählt. Was wir zusammen suchten und fanden, seiner Vorliebe für die Zentralalpen und für das Urgestein folgend, waren die großen Horizonte, war die Berührung mit dem großen Eis, die Unberührtheit und die Stille, das Erlebnis der großen Fahrt. Es war auch die „unnütze" Landschaft, die sich im Urgestein in breiter Zone vor der Stirne der Gletscher aufbaut. Wie kann man ihr nur Reize abgewinnen? Nun, uns gefiel es, dieses Trümmerland, wo Chaos und Regellosigkeit herrscht. Die Gefahr suchten wir nicht absichtlich auf, aber wir waren bereit, uns mit dem Ungewissen einzulassen, und weil wir das taten, gelangen uns Fahrten, von denen einige in der Erinnerung eine Leuchtkraft ohnegleichen haben. Ich denke an die kalte und trotzdem wundervolle Nacht im Bergell, wo wir nach der Bezwingung des Casnile-Ostgrates in 3044 m Höhe ein Freilager ohne Biwaksack herrichteten (Walter Risch war der erste, Hans Pfann der zweite, wir waren unwissend die dritten, die diesen Grat gingen). Ich denke an den steilen und abenteuerlichen Abstieg vom Teufelskamp in der Glocknergruppe mitten durch einen gewaltigen Eisbruch, parallel des Glocknerkamps direkt hinab zur Pasterze. Er war gespickt mit Spalten, in denen ganze Häuser Platz gehabt hätten. Besondere Schwierigkeiten bereitete uns die Überschreitung einer Spalte, über die nur eine sehr verdächtige, einsturzdrohende Schneebrücke führte, die dann auch zum Teil zusammenbrach. Ich denke an die Sternstunde auf dem Monte Sissone, von dessen Gipfel wir den himmelstürmenden Monte della Disgrazia, eines der herrlichsten Schaustücke der Schöpfung, zum ersten Male sahen, von dessen unsagbar schönen Formen und Maßen wir auf das tiefste ergriffen waren. Als Bergsteiger war Lanz kein Extremer, er war besonnen und absolut zuverlässig, dem Wesentlichen zugewandt, in großen Dimensionen denkend, das Schöne und die Freiheit liebend, durch und durch wahrhaftig und obendrein: ein schneidiger Kerl! Hierfür ein Beispiel: Er hatte gerade sein Staatsexamen bestanden und feierte dies mit seinen Ersparnissen im hintersten Ötztal in Vent. Damals mußte man die 40 Kilometer bis Zwieselstein und dann noch nach Vent zu Fuß zurücklegen, natürlich mit einem entsprechenden Rucksack. In Vent kommt im „Kuraten" noch am Abend ein einheimisches Dirndl: „Es sei doch ein Doktor von München da, er möge schnell kommen, der kleine Bruder hätte einen geschwollenen Hals und könnte nimmer schnaufen." Der junge Doktor geht nachschauen und findet eine dickverschwollene eitrige Mandel vor. Frisch von Sauerbruch belehrt, zieht er sein Taschenmesser, umwickelt es mit Leukoplast bis zu einem halben Zentimeter und schneidet die Mandel auf. Es entleert sich zwar kein Eiter, und der junge Doktor hat eine unruhige Nacht. Am nächsten Morgen aber kommt das junge Dirndl wieder in den „Kuraten", an der Hand den kleinen Bruder, dem es gut geht, und in der Schürze einen Butterballen zum Dank von der Mutter. Es ist das nur eine kleine Episode, aber sie zeigt schon bei dem jungen Lanz, aus welchem Holz er geschnitzt war.
Nun habe ich ein wenig vorgegriffen, hier einige Daten aus seinem inhaltsreichen Leben: Die Familie stammte aus dem östlichen Oberbayern (Gegend von Traunstein). Direkt von der Schulbank weg wurde Titus Lanz im Februar 1916 eingezogen. Er war Kriegsteilnehmer 1917 und 1918 und machte im Oktober 1917 die mörderische Flandern-schlacht mit. 1918 schlug er als Kompanieführer mit einer Handvoll Kameraden den angreifenden Gegner im Gegenangriff in die Flucht und führte dadurch in seinem Abschnitt eine bedeutsame Wendung herbei. Für diese gegen den ausdrücklichen Befehl der Vorgesetzten und aus eigener Verantwortung durchgeführte Tat wurde er mit dem Ritterkreuz des Bayerischen Militär-Max-Joseph-Ordens ausgezeichnet. Mit diesem ist der persönliche Adel verbunden. Nach Kriegsende wurde Titus von Lanz nahegelegt, die so glänzend begonnene militärische Laufbahn weiter zu verfolgen. Er war aber, wie ich den Worten seines Berufskollegen Lippert entnehme, „des Krieges müde, wollte sich nach eigener Bestimmung entfalten und Friedenswerke leisten". In der Medizin sah er den für ihn idealen Beruf. Ausschlaggebend war wohl eine Begegnung im Felde mit einem Arzt und späteren berühmten Chirurgen. Sein Ziel war zwar die Chirurgie, tatsächlich jedoch wurde er wegen äußerer und familiärer Umstände Anatom. Es war ein großes Glück für ihn, daß er hervorragende Lehrer und Vorbilder hatte, bei denen er nicht nur die subtilsten Techniken lernte, sondern sich auch den Weitblick des großen Wissenschaftlers und eine vornehme geistige Haltung aneignete. Nach zwei Jahren praktischer Lehrzeit in Halle und schon vier Jahre nach dem Staatsexamen habilitierte er sich in München für Anatomie. Im Mittelpunkt der ersten Vorlesung für die Neuimmatrikulierten stand für ihn immer das ärztliche Berufsethos und der Eid des Hippokrates. Bei seiner Ernennung zum a. o. Professor 1931 konnte er bereits auf eine stattliche Anzahl gediegener wissenschaftlicher Arbeiten zurückblicken. Dann aber kam, wie Lippert sagte, die geniale Konzeption, die seinen Namen unvergänglich in das Buch der Geschichte der Anatomie einschreiben wird, die Konzeption der „Praktischen Anatomie". Ich bin Laie und verstehe nicht viel davon, aber das weiß ich, daß die von ihm mit Professor Wachsmuth (Ordinarius für Chirurgie in Würzburg) begonnene Arbeit von den Fachleuten als ein monumentales Werk bezeichnet wird. Es nennt sich bescheiden ein „Lehr- und Hilfsbuch der anatomischen Grundlagen ärztlichen Handelns". Seine Gegner, sagt Lippert, werden vielleicht einwenden, daß der Gedanke, dieses Werk zu beginnen, in unserem Jahrhundert in der Luft lag: Das Genie unterscheidet sich aber darin von den lediglich geistreichen Zeitgenossen, daß es nicht nur mit Gedanken spielt, sondern sie auch zu verwirklichen sucht.
Wir sehen: Die Berge und das Bergsteigen allein bedeuten Titus von Lenz, so lieb ihm beides war, nicht den Lebensinhalt. Ein hohes Verantwortungsgefühl drängt ihn vielmehr an den Platz, auf dem er im Leben steht, seine Pflichten auf das gewissenhafteste zu erfüllen und die gewonnenen Erkenntnisse an die heranwachsende junge Ärztegeneration weiterzugeben. 1924 heiratete er in München. Seine Frau Hertha, die ihm in Leistung, Zähigkeit, Ausdauer und in der Begeisterung für die Berge nicht nachstand, schenkte ihm fünf Kinder. Mit dem nationalsozialistischen Gedankengut konnte er sich nicht einverstanden erklären. 1935 begannen die Schwierigkeiten mit dem herrschenden Regime. Da er zu den Menschen gehörte, die ihrer Gesinnung treu blieben, sah er sich einem wachsenden politischen Druck ausgesetzt. Er erhielt ein Arbeitsverbot, durfte keine Vorlesungen und Prüfungen mehr halten und verlor schließlich die Professur. Nach seiner vollständigen Enthebung vom Amte ließ ihn Prof. Lebsche ein halbes Jahr bei sich arbeiten. Auch Prof. Sauerbruch vermittelte ihm einen Auftrag, doch das Unglück verfolgt ihn weiter. 1944 fallen alle noch unveröffentlichten Abbildungen und Manuskripte zur Praktischen Anatomie, Ergebnisse jahrelanger Arbeit, einem Bombenangriff zum Opfer. Wenige Tage vor dem Waffenstillstand fällt noch sein 17jähriger Sohn Titus an der italienischen Front. Zwei Jahre dauert es, bis die Familie diese Gewißheit erfährt. 1948 verunglückt seine Frau Hertha mit der 17jährigen Tochter Hertha tödlich durch Absturz in der Bernadeinwand im Wetterstein. Die drei noch lebenden Kinder fordern sein Weitermüssen, sein Weiterkönnen. So heiratet er 1949 die Patin seiner Tochter Ursula. 1954 erleidet eben diese Tochter Ursula einen überaus schweren Schiunfall. Gleichzeitig kommen von allen Seiten ehrenvolle Berufungen auf anatomische Lehrstühle. Er lehnt ab und bleibt in München. 1961 wird er zum Präsidenten der Anatomischen Gesellschaft gewählt. Gäste aus aller Welt ehren ihn. An seinem 70. Geburtstag kann er auf ein Leben voller Höhen und Tiefen zurückblicken.
Mit seiner zweiten Frau und seinen Kindern trauert auch der DAK um einen großen Menschen und um einen Bergsteiger von echtem Schrot und Korn, der dem Klub Jahrzehnte hindurch bis zu seinem Tode die Treue gehalten hat. Für mich, den Älteren, war er Freund und Vorbild zugleich. Niemals hat er mit dem Leben gehadert. Von einem unerschütterlichen Vertrauen auf einen persönlichen Gott beseelt, hat er das menschliche Leben bejaht, auch wenn es im Letzten voller Tragik und ungelöster Rätsel ist.
Emil Gretschmarm
Quelle: Österreichische Alpenzeitung 1967, Juli/August, Folge 1354, Seite 89-92


Geboren am:
04.01.1897
Gestorben am:
04.02.1967